mutterkörper. jedes leben einmal zu ende.


                  großmutter schließt die augen und schläft. das leben ist noch nicht entwichen. noch steckt es in der kleinen brust. die sich sanft kaum spürbar noch hebt und senkt. der tod streichelt ihr über den kopf. der tod ist mit mir in diesem kleinen zimmer. der tod sitzt am kopfende. ich sitze neben dem bett auf der anderen seite. der tod und ich sehen uns nicht an.

margeriten hat sie am liebsten. margeriten trinken wasser auf dem tisch am bettende.
ihre augen werden die margeriten nicht mehr sehen. ihre augen sind seit drei tagen geschlossen.
meine augen sind müde. meine augen sehen seit drei tagen keine träume. nur den morgen, der gerade draußen vor dem fenster anbricht. mein rücken ist krumm. mein körper verschoben. seit drei tagen und nächten warte ich im stuhl neben dem bett darauf, dass der tod mir gegenüber sie mitnimmt. nur das leben will sie noch nicht gehen lassen. friedlich sieht sie aus. ihr körper mit den jahren geschrumpft. das gesicht eingefallen.
ihre nase wirkt spitzer. auf ihrem kinn zähle ich sieben lange weiße haare. meine müden augen sie  übersehen als in meiner hand die pinzette. die haut im gesicht ist weich. ganz schlaff.

in diesem gebrechlichen körper vor mir ist meine mutter herangewachsen. die brüste, die meine mutter einmal genährt, nur noch zwei hautlappen auf dem bauch.
sie dachte schon lange an den tod. wir warten seit längerem gemeinsam auf ihn. jetzt streichelt er ihr über den kopf. und wird sie bald mitnehmen.

                  martha. ein einziges mal. ein einziges mal nur erzählte sie mir von martha. dem mädchen, das im weißen kleid auf vergilbtem papier neben ihr steht. wie zwei kleine bräute. zwei fromme mädchen, die den leib christi zum ersten mal auf ihren zungen.
im schwarzen album. großmutters schatz. ich schlug den schwarzen ledereinband auf und entdeckte das bild. erkannte sofort großmutters nase. fragte, wer das da neben ihr sei. martha, sagte meine großmutter.

martha hatte langes schwarzes haar und war sehr hager. sie war getauft. war ein christenkind. ich fragte, was mit martha passiert sei. großmutters augen wurden feucht. ihr mund begann zu zittern und fragte, ob ich nicht noch ein kompott. ich bekam kompott und vergaß den namen mit m.

erst nach großvaters tod hörte ich ihn wieder. als meine großmutter ihr schwarzes album hervor um zu weinen. sie erzählte mir von ihrer erstkommunion. sie erzählte mir von ihrer besten freundin. sie erzählte mir von martha. sie erzählte mir unsere geschichte.

(...)

als meine großmutter noch zur schule und mit martha in die kirche, herrschte frieden.
nur eines tages lernten die mädchen eine andere schrift. mussten in einer anderen schrift schreiben. und eines tages war meine großmutter eine schönheit und jeder musste so werden wie sie. blond und blauäugig.
eines tages war es egal, dass martha jeden sonntag in die kirche. eines tages schauten alle nur noch auf ihre nase. und lachten. zogen an ihren langen schwarzen haaren.
der zweite große krieg kam. die berge und das tal wurden einem anderen reich geschenkt. dem reich, denen sie einst gehört als die vorfahren unseres volkes aus dem westen hierher.

martha und meine großmutter hatten die sprache schon gekannt. diese eine sprache, die ganz anders als alle anderen sprachen, die auf unserem kontinent gesprochen. von nun an wurde nur noch diese sprache gesprochen. selbst zuhause. alles war nur noch magyarisch. als großmutters kleine schwester geboren wurde, durfte sie nicht erika heißen. in ihrer geburtsurkunde steht der name ildikó. ein magyarischer name. germanischen usprungs. der priester, der diesen namen ausgesucht, es nicht besser gewusst.

man wusste vom krieg. man spürte den krieg. doch die bomben flogen woanders.
es waren nicht die schreie der kleinen erika, die meine großmutter geweckt. eines nachts. es war ein zug, der mitten in der nacht in den bahnhof rollte. meine großmutter stand am fenster und beobachtete die menschen aus marthas viertel auf der straße. mit koffern in der hand standen sie dort und stiegen in die braunen waggons. meine großmutter erkannte martha auf der straße. meine großmutter wollte ihr zurufen. schreien. auf die straße rennen. spürte plötzlich die hand ihrer mutter auf ihrer schulter. das schütteln. dann im dunkeln spürte sie die ohrfeige bis ins knochenmark. willst sterben?
bis zum morgengrauen stand meine großmutter am fenster. bis sie den letzten viehwaggon nicht mehr sehen konnte.

meine großmutter blätterte die seite um. verstummte.
ich fragte sie wo martha denn hingefahren sei. ohne mich anzusehen sagte sie hart:
ins gas. und dann in den ofen.

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